Am 27. Januar jährte sich der Tag der Befreiung von Auschwitz zum 80. Mal. Oberbürgermeister Adolf Kessel gedachte gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern am Wormser Mahnmal der Opfer des Faschismus am Otto-Wels-Platz und legte einen Kranz nieder.
In seiner Ansprache betonte OB Kessel, dass auch in Worms die jüdische Gemeinde vernichtet wurde – mindestens 354 Wormser wurden deportiert und ermordet. Die Deportation derjenigen, die zuvor nicht hatten fliehen können, fand in mehreren „Aktionen“ in den Jahren 1942 bis 1945 statt. Aber bereits zuvor hatten, wie Kessel ausführte, Deportationen ganzer Sinti-Familien stattgefunden. Noch vor den jüdischen Bürgern wurden mit dieser ersten Verschleppungsaktion der Nationalsozialisten insgesamt 2.800 Sinti und Roma in die polnischen Ghettos und Konzentrationslager verschleppt, unter ihnen auch 71 Personen aus Wormser Sinti-Familien.
Das Stadtoberhaupt zeigte sich entsetzt darüber, dass sich die Demokratie aktuell weniger gefestigt zeigt als lange angenommen. „Ich dachte, wir Deutschen hätten dieses finsterste Kapitel unserer Geschichte, wenn schon nicht wirklich aufgearbeitet, so doch zumindest überwunden. Eine Wiederholung des Geschehenen erschien mir völlig ausgeschlossen. Zu sehr hatte sich nicht nur der Glaube an die Vorteile unserer Demokratie festgesetzt.“ Kessel verwies darauf, dass autokratische Bestrebungen und Populismus nun überall auf der Welt wieder Fuß fassten und rief dazu auf, sich solchen Tendenzen entgegen zu stellen.
Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Truppen das Konzentrationslager Auschwitz. Zum Gedenken an diesen Tag und die Opfer des Völkermordes durch das Naziregime begeht die Stadt Worms jährlich diesen traditionellen Gedenktag.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
sehr geehrte Damen und Herren,
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Mit diesen Worten des Artikels 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland möchte ich einleiten zum Gedenken an einen Tag, der für zahllose Menschen untrennbar mit den schrecklichsten Verbrechen an der Menschheit verknüpft ist, die wir uns nur vorstellen können. Dieser Artikel 1 steht über unserem gesamten Gesetzes- und Regelwerk und ist nichts anderes als der warnend erhobene Finger, dass sich die menschenverachtenden Ereignisse des Holocaust und des gesamten Zweiten Weltkriegs niemals wiederholen dürfen.
Und aus diesem Grund unterliegt dieser Artikel 1 der sogenannten Ewigkeitsklausel in Artikel 79 des Grundgesetzes und darf auch im Wege einer Verfassungsänderung durch den Gesetzgeber nicht angetastet werden.
Auch 80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Soldaten ist es für mich kaum vorstellbar, zu welch schrecklichen Taten der Mensch fähig ist.
Was muss in den Gehirnen der Menschen vorgehen, die die systematische Vernichtung eines ganzen Volks und zahlloser sogenannter ungewollter Menschen aushecken? Und wie verroht muss ein Mensch nicht nur sein, um bei der Umsetzung beispiellose Grausamkeiten an seinen Mitmenschen auszuüben, sondern diese Taten nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs auch noch zu verteidigen?
Doch es ist zu kurz gegriffen, wenn wir uns im Gedenken nur auf diese zwölf dunklen Jahre konzentrieren. Der Hass auf Juden, Sinti und Roma ist ja nicht erst 1933 mit der Machtergreifung der Nazis entstanden. Schon das Wort „Machtergreifung“ ist eine geradezu groteske Verharmlosung dessen, was in unserem Land damals wirklich geschehen ist. Es macht uns glauben, dass da jemand Fremdes die Macht in Deutschland an sich gerissen hätte oder dass es ein Ereignis war, an dem die „normale“ Bevölkerung gar nicht beteiligt war.
Tatsächlich aber gaben im März 1933 bei der letzten Reichstagswahl der Weimarer Republik rund 44% der Wählerinnen und Wähler der NSDAP ihre Stimme. Dass der NSDAP trotz Verfehlens der absoluten Mehrheit mit dieser letzten Wahl zugleich der Weg in die Diktatur geebnet wurde, liegt darin begründet, dass demokratische und christliche Politiker entweder immer noch glaubten, man könne die Nazis in die Demokratie der Weimarer Republik einbinden, oder bereits jeglichen Mut zum Widerstand verloren hatten und durch ihr Nachgeben hofften, selbst den Fängen der Nazis zu entkommen. Führende Politiker von KPD und SPD waren zu diesem Zeitpunkt bereits verhaftet worden, untergetaucht oder ins Ausland geflüchtet. Nur wenige erhoben nach der Wahl noch mutig ihre Stimme, allen voran der sozialdemokratische Parteivorsitzende Otto Wels, der sich in einer legendären Rede zur Weimarer Verfassung und zu den in ihr verankerten Grundsätzen der Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit bekannte.
Aber woher kam nun dieser abgrundtiefe Hass so vieler Menschen, gegen Juden, Sinti und Roma der diesen Massen- und Völkermord erst ermöglicht hat? In zahlreichen Staaten des Mittelalters wurden sie von den Ständen ausgeschlossen und waren gezwungen, als Händler, Geldverleiher oder in medizinischen Berufen ihr Geld zu verdienen.
Sinti und Roma sahen sich ebenfalls seit Jahrhunderten Ausgrenzung und Verfolgung ausgesetzt. Pogrome gegen Juden, Sinti und Roma und andere Gruppen hat es in der Geschichte wiederholt gegeben, doch nie in dem Ausmaß wie zu den Zeiten Hitler-Deutschlands. Wir gedenken heute hier aber auch Kranken und Behinderten, Homosexuellen, politischen Gefangenen, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, die ihr Leben verloren.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, auch in Worms wurde die jüdische Gemeinde vernichtet. Mindestens 354 Wormser wurden deportiert und ermordet. Die Deportation derjenigen, die zuvor nicht hatten fliehen können, fand in mehreren „Aktionen“ in den Jahren 1942 bis 1945 statt.
Schon zuvor fanden Deportationen ganzer Sinti-Familien statt. Noch vor den jüdischen Bürgern wurden mit dieser ersten Verschleppungsaktion der Nationalsozialisten insgesamt 2.800 Sinti und Roma in die polnischen Ghettos und Konzentrationslager verschleppt, unter ihnen auch 71 Personen aus Wormser Sinti-Familien.
Gewaltige soziale Umbrüche und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten trugen dazu bei, dass sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung in der Weimarer Republik steigerte.
Die populistischen Versprechungen deutschnationaler Parteien, die Arbeitslosigkeit zu besiegen, Deutschland wieder zu seiner „angestammten“ Größe zu führen und die vermeintlich Schuldigen zu bestrafen, klangen verlockend für Millionen Deutsche. Genau wie heute richtete sich die Feindseligkeit dabei in den seltensten Fällen gegen persönlich bekannte Angehörige dieser Gruppen, es war vielmehr ein unbestimmtes Feindbild, das durch Pauschalierungen in den Köpfen der Menschen entstand und sich schleichend ausbreitete. Der jüdische Nachbar, der kommunistische Arbeitskollege oder der sozialdemokratische Bürgermeister im Ort hingegen waren zumeist ganz normale und oftmals durchaus geachtete Mitglieder der dörflichen oder städtischen Gemeinschaft.
Schon bald verschwanden diese Nachbarn, Kollegen, Politiker oder ausländischen Mitbürger aus der Nachbarschaft. Größeren Widerstand gegen die Abholungen und Deportationen leisteten nur ganz vereinzelt sehr mutige Menschen, die das oft mit dem eigenen Leben bezahlten. Ich vermag zu beurteilen, dass es notwendig ist, jeglichen politischen Aussagen, die eine Gruppe unserer Gesellschaft über eine andere stellen, energisch entgegengetreten werden muss, da ich aus der Geschichte, an die wir uns heute erinnern, weiß, was daraus entstehen kann.
Und ich vermag zu beurteilen, dass keiner von uns seine Herkunft oder das gesellschaftliche Umfeld, in das er hineingeboren wurde, selbst bestimmt hat, für seine Ethnizität oder kulturelle Prägung also zunächst einmal überhaupt nichts kann. Wofür wir aber als Erwachsene immer etwas können, ist unser Verhalten!
Ich dachte, wir Deutschen hätten dieses finsterste Kapitel unserer Geschichte, wenn schon nicht wirklich aufgearbeitet, so doch zumindest überwunden. Eine Wiederholung des Geschehenen erschien mir völlig ausgeschlossen. Zu sehr hatte sich nicht nur der Glaube an die Vorteile unserer Demokratie festgesetzt, auch ein abgrundtiefer Hass wie der gegen die vom Naziregime und ihren Schergen verfolgten Menschen könnte – davon war ich felsenfest überzeugt – in unserer freiheitlichen Gesellschaft nie wieder Fuß fassen. Wir Deutschen lebten verglichen mit anderen Teilen der Welt in stabilen und finanziell recht guten Verhältnissen. Extremistische oder extremistischen Positionen nahestehende politische Parteien hatten nur kurzfristig einen gewissen Erfolg, ohne in der Mitte der Gesellschaft jemals wirklich Fuß zu fassen.
Aber während wir uns in Deutschland nach dem Zerfall der Sowjetunion von Freunden „umzingelt“ wähnten und die Bedrohung durch den Kalten Krieg lange geradezu blind als endgültig überwunden dachten, geriet die Weltordnung bereits zunehmend ins Wanken. Es bildeten sich mehr und mehr lokale Unruheherde in der ganzen Welt. Massive Flüchtlingsbewegungen waren die Folge von religiös oder machtpolitisch geprägten Umstürzen, Bürgerkriegen oder gar Kriegen zwischen Staaten. Die erste Flüchtlingswelle aus Syrien und Afghanistan wurde noch überwiegend freundlich empfangen. Es entstanden zahllose Initiativen, die sich zum Ziel setzten, Kultur auszutauschen und die Flüchtlinge in unserem Land zu integrieren. Zu lange wurde dabei verkannt, dass Flucht und Vertreibung in ein anderes Land eben nicht nach sich ziehen, dass der Geflüchtete die eigene kulturelle Identität aufgeben und die Lebensweisen seines gastgebenden Landes annehmen möchte oder zumindest als richtig empfindet. Die Vorstellung, dass ich in ein anderes Land fliehen müsste, verdeutlicht mir das. Nur, weil ich in der Heimat in Gefahr bin, lege ich weder meine kulturellen und moralischen Werte noch meine Erziehung ab. Integration ist ein Prozess, der Jahrzehnte dauert.
Zurzeit besteht jedoch die begründete Hoffnung, dass sowohl in Syrien als auch im Gazastreifen die Gewalt nicht weiter eskaliert und nunmehr das zarte Pflänzchen des Friedens gedeihen mag.
Und auch für die Ukraine gebe ich die Hoffnung auf Frieden nicht auf. Wenn der erneut gewählte US-Präsident Trump seinen Ankündigungen Taten folgen lässt, erscheint auch hier ein Frieden oder zumindest Waffenstillstand greifbar. Es sind aber noch erhebliche Anstrengungen vonnöten, um diesen Prozess voranzutreiben.
Zeitgleich stehen wir in Deutschland vor der Herausforderung, im wirtschaftlichen Wettkampf mit anderen Nationen mithalten zu können. Große Staaten wie China lehnen demokratische Strukturen ab, Russland scheint in dem Bemühen des Westens um diplomatische Lösungen lediglich Schwäche zu erkennen und die USA haben uns mit Trumps „Make America Great Again“ deutlich vor Augen geführt, dass Fairness und Miteinander im internationalen Beziehungsgeflecht beileibe keine Selbstverständlichkeiten sind. All dies erzeugt bei vielen Menschen Angst vor der Zukunft. Und diese Angst ist ein guter Nährboden für Populismus.
Angst ist nun mal eine Emotion. Sie spielt sich nicht im logischen Denken ab, sondern auf der Gefühlsebene, und daher ist es so schwierig, Angst mit Argumenten – seien sie auch noch so gut – zu begegnen. Es ist nun einmal Fakt, dass sich der Anteil ausländischer Menschen in Deutschland vergrößert hat, es ist nun einmal Fakt, dass wir erheblich mehr Menschen anderer Nationalität auf den Straßen begegnen, und es ist nun einmal Fakt, dass auch Straftaten, begangen von Menschen mit Migrationshintergrund, zunehmen. All dies verstärkt bei vielen Menschen in unserem Land die Angst vor der Zukunft und die Ablehnung von Menschen fremder Herkunft. Angst macht es eben leicht für Gruppierungen, die scheinbar einfache Lösungen anbieten, selbst wenn es diese gar nicht gibt. Hinzu kommen noch vor wenigen Jahren ungeahnte Möglichkeiten, in sozialen Medien kommunizieren zu können und jede – sei sie noch so falsch – Behauptung nahezu ungebremst streuen zu können. Und je häufiger wir einer Botschaft begegnen, umso eher nehmen wir sie als wahr an.
Es sind nur kleine Schritte von Unbehagen zu Angst, von Angst zu Feindseligkeit und von Feindseligkeiten zu Übergriffen. Heute hören wir wieder, dass es bei Wahlen gilt, die etablierten Parteien und ihre Politiker dafür zu bestrafen, dass sie Schuld an dem vermeintlichen Niedergang Deutschlands haben.
Dass Überfremdung unsere Kultur und den Fortbestand des deutschen Volks gefährdet und es daher notwendig sei, ausländische Menschen zu „remigrieren“. Dass inzwischen nahezu jedes Verbrechen vermeintlich von Menschen mit Migrationshintergrund begangen wird. Dabei kann kriminelles Verhalten nicht mit der vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer Ethnie erklärt werden. Es ist stets von der individuellen sozialen Situation abhängig.
Die Geschichte lehrt uns nicht nur, dass wir niemals vergessen dürfen, was in den zwölf Jahren des Naziregimes in Deutschland und seinen benachbarten Ländern geschehen ist. Sie lehrt auch, dass dauerhaftes Wachstum einer Volkswirtschaft eine Fiktion ist. Jedem Aufschwung folgt eine Rezession. Die gute Nachricht ist, dass jeder Rezession und jeder überwundenen Krise auch wieder ein Aufschwung folgt. Angst ist bei Lebensentscheidungen niemals ein guter Ratgeber, schon gar nicht, wenn sie derart unbestimmt ist wie unsere aktuelle Zukunftsangst und sie uns in Zeiten führen kann, von denen wir uns geschworen haben, dass wir sie nie wieder zulassen.
Jede Gesellschaftsform der Vergangenheit ist zusammengebrochen, wenn die Bevölkerung den Nutzen, den sie geboten hat, nicht mehr gesehen hat oder dieser Nutzen tatsächlich weggefallen ist. Letzteres ist in unserem Staat beileibe nicht der Fall.
Darum ist es von immenser Bedeutung, dass wir die Angst der Menschen ernst nehmen, dass wir die Schwachen – auch unserer eigenen Bevölkerung – nicht aus den Augen verlieren. Wir müssen den Ängsten der Menschen vor allem auf der emotionalen Ebene begegnen. Wir müssen dabei differenzieren und dürfen nicht zuzulassen, dass wir pauschalierend von „den“ Juden oder „den“ Ausländern sprechen. Und sprechen wir immer wieder davon, um wie viel besser es sich in der Freiheit einer Demokratie lebt als in allen anderen Gesellschaftsformen. Denn streng genommen geht es niemandem von uns persönlich auch nur einen Deut schlechter, weil wir uns in Deutschland um Flüchtlinge kümmern. Und vergessen wir neben den Ängsten auch nicht die positiven Erlebnisse, die uns durch die Begegnung mit anderen Kulturen ermöglicht werden. Eine andere Sicht der Dinge muss nicht zwangsläufig nachteilig sein, sie kann auch ungemein bereichern.
Gerade deshalb ist unser heutiges Besinnen auf den Holocaust, der durch Deutsche im Dritten Reich begangen wurde, und die Auseinandersetzung mit der Angst so wichtig. Die besondere Verantwortung Deutschlands wird inzwischen viel zu oft mit der Frage nach einer persönlichen Schuld verknüpft – nur um diese dann vehement von sich zu weisen. Dabei geht es gar nicht darum, ob die heute lebenden Menschen an den Gräueln der Nazizeit eine Mitschuld tragen.
Es geht darum, niemals zu vergessen und eine Wiederholung zu verhindern! Das ist unsere Verantwortung und das ist unsere Pflicht! Wir schulden den Opfern des Holocaust nicht nur unser Gedenken, sondern auch unser Handeln. Natürlich ist der Holocaust-Gedenktag ein Tag des Nachdenkens, er ist aber auch ein Tag der Ermutigung. Wir gedenken der Vergangenheit, aber wir richten unseren Blick auch auf die Zukunft. Eine Zukunft, in der wir aus den Fehlern der Geschichte lernen und eine Welt schaffen, in der jedes Menschenleben geachtet und geschützt wird. Die Würde des Menschen ist unantastbar! Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass sie das auch bleibt.
Ich möchte nicht versäumen auf den Vortrag, Lesung und Diskussion am Donnerstag, 30. Januar 2025, um 18 Uhr in der Gedenkstätte KZ Osthofen, Ziegelhüttenweg 38 des Bündnisses gegen Naziaufmärsche hinzuweisen, in dem das Buch der Autorin Ruth Hoffmann - Das deutsche Alibi Mythos „Stauffenberg-Attentat“ – vorgestellt wird.
Ich bedanke mich für Ihre Teilnahme an der Gedenkveranstaltung.