Bombennächte im Weinkeller der Großeltern, im Dreckhaufen vergrabenes Geschirr, der erste Kaugummi: Else Müller, geborene Steinmetz, Ende des 2. Weltkrieges noch ein Kind, erinnert sich.
Als dann die Amerikaner kamen und die Panzer die Straße runter fuhren, sah ich zum ersten Mal in meinem 5-jährigen Leben einen "Schwarzen" (Afro-Amerikaner). Doch zuvor rannten alle umher und suchten nach einer Möglichkeit, die großen weißen Betttücher am Haus anzubringen. Aus dem roten Fahnenstoff (Nazi-Fahnen mit dem Hakenkreuz, Anmerkung der Redaktion) wurden Kleidchen genäht. Damals verstand ich das ja alles nicht, nur jemand von den vielen Kindern, die auf der Straße standen, rief: „Schuingam“ (engl. chewing gum = Kaugummi). Ich wusste nicht, was das soll, doch wir hatten großen Erfolg. Bonbons, Kaugummi, Pulverkaffee, Brause usw. flogen uns entgegen. Alles Dinge, die wir nicht kannten.
Meine Mutter kam in der Zeit davor jeden Abend, wenn sie den kleinen Lebensmittelladen in Worms geschlossen hatte, mit dem Fahrrad nach Alzey gefahren. An diesem Abend jedoch hielt ein Bauer sie unterwegs an und machte ihr klar, dass sie alleine nicht mehr weiterfahren, aber bei ihnen übernachten könne. Am nächsten Morgen fuhr sie nach Worms zurück und die Mieter erzählten ihr, dass in der Nacht der Mob im Haus war und alles mitgenommen habe. Jetzt, wo es schon nicht mehr viel gab, war auch dieses noch weg.
Als zwei Soldaten auftauchten, gab ein Mieter meiner Mutter den Tipp, sie solle denen eine Flasche Wein geben, weil das Haus jetzt bewacht werden würde. Meine Mutter ging mit einer Kerze, wie damals üblich, in den Keller. Ein Luftzug, die Kerze ging aus, aber meine Mutter hatte blitzschnell reagiert. Sie stieß die Person, welche ihr nachgestellt hatte, um und schrie: „Du kaputt, ich kaputt – egal“ und sprang dabei über ihn weg und rannte nach oben. Eine Weile später kam auch er. Ein großer "Schwarzer" mit den „Schleich-Stiefeln“, wie sie immer sagte. Diesen Schock von damals hatte sie nie überwunden und erzählte noch sehr oft davon.
Alle Häuser rundum waren zerstört, auch unser Hinterhaus. Im Speicher des Vorderhauses waren Brandbomben niedergegangen, mit einem Fliegerschaden von 50%. Im November 1944 war mein Vater gefallen, und doch mußte es weitergehen. Es mußte repariert und wieder aufgebaut werden. Kein Handwerker arbeitete nur für Geld, sie wollten auch Naturalien. Meine Mutter fuhr auch weiterhin jeden Sonntag zu ihren Eltern. Ihr Bruder brachte sie dann jeweils mit dem Fuhrwerk zur Bahn, beladen mit Frucht, Eiern, Butter und was sie sonst noch zu Hause brauchte. Alles wurde ins „Bremserhäuschen“ gepackt, denn im Zugsabteil gab es nicht viel Platz. In Worms ausgeladen, stand dann alles auf den Bahnsteig und dann lag es an meiner Mutter, mit all diesem „Gepäck“ und mir, nach Hause zu kommen, was zum Glück nicht weit vom Bahnhof war. Etappenweise trug sie einen Teil der Ware ein paar Meter weiter, ich folgte langsam und sie holte dann den Rest nach. So ging es bis wir zu Hause angelangt waren.
Mit dem Rad fuhr sie das von Alzey mitgebrachte Getreide nach Lambsheim und tauschte es dort gegen Gemüse ein. Meine Mutter kochte für die Männer, welche für sie arbeiteten. Unter den Handwerkern war auch ein Dachdecker. Er verlangte für die Ziegeln nicht nur einen Geldbetrag, sondern vor allem noch Verschiedenes zu essen. Mit der Adresse meiner Grosseltern marschierte er mit Leiterwagen und drei Kindern von Worms nach Alzey. Seinen Anteil hatte er bereits im Leiterwagen, da entdeckte er die Ziege meiner Großmutter. Diese Ziege war Großmutter's „Gäsje“ und ihr Ein und Alles, konnte sie doch oftmals kleinen, kränklichen Kindern von der Ziegenmilch etwas abgeben. Der Dachdecker aber bestand auf dieser Ziege und ließ nicht locker. Er drohte sogar, dass er sonst den Schiefer wieder vom Dach holen würde. Später stellte sich dann heraus, dass er Schiefer von einem alten Haus verwendet hatte. Dieser Dachdecker bekam von meiner Mutter nie mehr einen Auftrag.
Ich mußte zu Hause schon früh mit anpacken, lernte im „Tante-Emma-Laden“, wie man heute sagt, Ware abwiegen, spitze und gerade Papiertüten verschließen und das Kopfrechnen. Die Leute kamen und verlangten ein „Achtelchen guten Kaffee“ oder ein „Achtelchen gute Butter“, denn da gab es schon die "RAMA-buttergleich". Oder den "Malzkaffee hinten spitz – vorne spitz" aus Gerste selbst gebrannt. Dann kam "Lindes" mit den blauen Punkten und "Kathreiner".
Unter der Theke waren große Schubladen. In der unteren auf der rechten Seite war SODA (zum Spülen), in der linken, oberen waren Erbsen, Bohnen und Linsen, die aber erst an den Abenden ausgelesen werden mussten. Dann waren ja auch noch die Bezugsscheine und Marken, ohne die es nichts zu kaufen gab und die ebenfalls abends eingeklebt werden mussten. Zu dieser Arbeit trafen sich die Frauen aus dem Haus und der Nachbarschaft, um meiner Mutter zu helfen. Besonders im Winter waren alle froh, dass sie warm saßen und zu Hause kein Feuer brauchten. Zum Kleben der Marken stand der Kleber „Wasserglas“ in einem Metallbecher mit grossem Pinsel auf dem Tisch. Bis 20 Uhr durfte ich helfen. Nicht selten musste ich der Kundschaft, meist älteren Leuten, die Lebensmittel heimtragen, da sie entweder im 3. Stock oder etwas weiter entfernt wohnten.
Als wir durch die Franzosen besetzt waren, fuhren wir mit dem Rad, ich im Körbchen sitzend, zur Rheinfähre, da ja die Brücke zerstört war, und dann weiter nach Lampertheim, welches von den Amerikanern besetzt war, um Schokolade in dunklen Zimmern zu kaufen. Wieder in Worms zurück, musste man zuerst aufs Zollamt damit.
Am Rhein wurde Treibholz gesammelt und in den umliegenden Trümmergrundstücken die Balken, die noch nicht verbrannt waren. Zum Bauen wurde aus Alzey der gebrannte Kalk zum Mauern mit dem Fuhrwerk gebracht.
Alles war rationiert, doch einmal gab es Datteln „frei“ (mit Fasern), im Jutesack. Uns Kindern schmeckten diese Datteln anfangs sehr gut, doch plötzlich wollten wir keine mehr sehen. Bestimmt hatten wir einfach zu viele davon gegessen.
Von den weißen Brötchen, die so gut rochen, und nur auf Marken zu erhalten waren, von denen erhielt ich erst am Abend, wenn kein Kunde mehr kam und ein Brötchen übrig blieb.
Bei den Grosseltern auf dem Bauernhof in Alzey
Samstags wurde in einer Zink-Badewanne in der Küche gebadet. Warmes Wasser kam aus dem Schiff im Backofen, der mit Reisig gefeuert wurde. Gemütlich war es, wenn mein Großvater mit mir am Ofen saß und „Krüstchen“ (Pellkartoffelscheiben) und Äpfel auf dem Ofen backte, besonders in der Winterzeit. In der Küche war es immer behaglich warm.
Im Sommer wuschen sich die Knechte im Hof am Brunnen und im Winter im Pferdestall. Als Bettflasche wurde ein großer Feldstein in den Backofen gelegt, abends in ein Tuch gewickelt und ins Bett gelegt. Ich aber, ich hatte ein ganz besonderes Privileg, denn ich bekam einen Steinkrug.
Im Hof wurde "Latwerge" (Pflaumenmus) gekocht, und sie machten sich einen Spaß daraus, mich das "Latwerge"-Leiterchen in der Nachbarschaft holen zu lassen.
Wenn geschlachtet wurde, bekamen wir Kinder ein Würstchen angemessen, das heißt, mit Blut zwei rote Striche im Gesicht und es gab später ein Leberwürstchen.
Wieder zu Hause in Worms
Im Hinterhaus, das fast ganz zerstört war, wohnte noch eine ältere Frau im letzten noch bewohnbaren Zimmer. Man musste durch Trümmer und über Balken steigen, um dorthin zu gelangen. Dieses traurige Bild ist mir besonders stark in Erinnerung geblieben und ich sehe es noch heute deutlich vor mir.
Wenn es im Winter sehr kalt war, wurde das Wasser um 20 Uhr bis zum frühen Morgen abgestellt. Bevor dies geschah, musste ich zu jedem Mieter, bis in den 3. Stock laufen und Bescheid sagen. Manchmal passierte es, dass sich noch Restwasser in der Leitung befand und über Nacht eingefroren war. Meine Mutter musste dann die betroffene Stelle zuerst suchen und dann das Eis mit der Lötlampe auftauen.
Im Winter war es immer kalt, besonders am Morgen. Eine Waschschüssel stand auf einem großen, schwarzen Wasserstein, die Eisblumen am Fenster vor mir und was besonders schlimm war, die „Sandseife“. Der Gasbackofen gab etwas Wärme ab.