Vor exakt 950 Jahren passierte in Worms etwas nie Dagewesenes: Nachdem die Wormser ihren Stadtherrn, den Bischof, aus der Stadt verjagt hatten, unterstützten sie gemeinschaftlich militärisch den jungen König Heinrich IV. und ließen ihn und sein Gefolge in die ummauerte Stadt. Nachdem Heinrich bei einem Aufstand in Sachsen fast sein Königtum verloren hatte, retteten die Wormser damit seinen Thron. Im Gegenzug reagierte der Herrscher in spektakulärer Weise: In einer feierlichen, lateinischen Herrscherurkunde räumte er den jüdischen wie christlichen Wormsern unter großem rhetorischem Aufwand als Dank für die Hilfe und Unterstützung wirtschaftlich höchst willkommene Zollfreiheiten ein und forderte andere Städte ausdrücklich zur Nachahmung auf.
Erstmals überhaupt stellte ein König damit am 18. Januar 1074 zusammen mit seinem nur kleinen Gefolge einer noch ganz in den Anfängen stehenden Gemeinschaft von Bürgern in Worms eine Urkunde aus, steigerte ihr Selbstwertgefühl, erkannte sie als rechtsfähig an und zeichnete sie damit in einer beispiellosen Weise aus.
Das feierliche und aufwendig gestaltete Pergament, das mit dem gut erhaltenen Siegel des Herrschers beglaubigt wurde, wird seitdem von der Stadt Worms verwahrt. Es gilt heute als ein herausragender Beleg für die wachsende Bedeutung der Städte auch und gerade für die Herrschaft des Königtums im ‚Game of Thrones‘ des Mittelalters. Zugleich dokumentiert das Stück die Entstehung einer erst noch in den Anfängen stehenden, rechtlich verfassten Gemeinschaft von Bürgern, zudem belegt es den Radius des ausgreifenden Wormser Fernhandels rheinabwärts und in Richtung Westfalen/Sachsen.
Das Wormser Stadtarchiv, das dieses einzigartige Dokument verwahrt, lädt zum Jahrestag im Januar 2024 an zwei Tagen dazu ein, das Pergament im Original zu bewundern. Eingehende Hintergrundinformationen werden dabei geboten und Fragen beantwortet. Eine neue Gesamtdarstellung über das Stück mit Übersetzung und ausführlichen Hintergrundinformationen ist inzwischen erschienen und wird am Jahrestag im Rahmen eines Festakts bei freiem Eintritt der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt:
Samstag, 13.01.2024
10.30 bis 16.30 Uhr: Freier Eintritt in das Jüdische Museum Raschi-Haus, Hintere Judengasse 6, mit Präsentation der Urkunde 1074 (Kurzvorstellung Dr. Gerold Bönnen um 14 und 15 Uhr)
Donnerstag, 18.01.2024
10.30 bis 17 Uhr: Freier Eintritt in das Jüdisches Museum Raschi-Haus, Hintere Judengasse 6, mit Präsentation der Urkunde 1074 (Kurzvorstellung Dr. Gerold Bönnen um 14 und 15 Uhr)
18 Uhr: Vortrag des Stadtarchivleiters Prof. Dr. Gerold Bönnen: „… würdiger als alle Bürger irgendeiner Stadt“. 950 Jahre Urkunde König Heinrichs IV. für Worms 1074–2024 mit Vorstellung einer neuen Publikation zu den Hintergründen des Ereignisses und anschließendem Umtrunk im WORMSER Tagungszentrum, Großer Liebfrauensaal, Rathenaustr. 11, 67547 Worms (Eintritt frei)
Vor
dem Hintergrund der dramatischen Lage der Königsherrschaft Heinrichs IV. war
dieser nach dem Bericht des geistlichen Chronisten Lampert von Hersfeld von den
Wormsern in ihre befestigte Stadt aufgenommen und unterstützt worden; der
bischöfliche Stadtherr musste schon zuvor fliehen. Bewaffnet und gerüstet
gelobten die Bürger dem König Beistand, Treue und Hilfe, nach Lampert
gemeinschaftlich handelnd (‚communi
civium favore‘). König Heinrich IV.,
der fast fluchtartig aus Sachsen an den Rhein gekommen war, stellte in der für
ihn überaus schwierigen politischen Lage für die 'Juden und übrigen Wormser' (‚judei et coeteri Wormatienses‘) aus
Dankbarkeit für die ihm vor Ort gewährte Unterstützung eine Pergamenturkunde
aus, in der den Bewohnern von Worms (‚Uvormatiensis civitatis habitatores‘) Zollfreiheiten an den genannten königlichen Zollstätten erteilt hat.
Es handelt sich um die älteste Urkunde des Stadtarchivs Worms und "die erste Urkunde überhaupt, die im deutschen Reich vom König den Bürgern einer Stadt ausgestellt worden ist" (Schulz 1992). Zugleich ist sie ein beispielloses politisch-programmatisches Manifest: Das Verhalten der Wormser gegenüber dem König wird als Vorbild für andere Städte herausgestellt, diese werden explizit zur Nachahmung ermuntert.
Die mit dem gut erhaltenen Siegel des Königs beglaubigte Urkunde ist sowohl ein Zeugnis für die wirtschaftliche Betätigung der Mitglieder der blühenden Wormser Judengemeinde im Fernhandel als auch für die Herausbildung einer militärisch-politisch handlungsfähigen Wormser Stadtgemeinde. Schon der Tatbestand, dass die Urkunde bis heute, fast 950 Jahre später, in einer kommunalen Archivüberlieferung verblieben ist, bezeugt die Existenz eines Leitungsgremiums bzw. einer handlungsfähigen Führungsgruppe mit dezidierten ökonomischen Interessen und eine auf Dauerhaftigkeit angelegte kommunale Organisationsform schon in der Salierzeit! Der Historiker Bernd-Ulrich Hergemöller sieht in der Urkunde daher ein Zeichen für einen ‚epochalen Wandel‘ in der Herrschaftsordnung(2000).
Mit der Urkunde kommt erstmals überhaupt eine Art ‚Bündnis‘ zwischen dem König und den von ihm rechtlich anerkannten und geförderten Bürgern als neuer politisch-militärischer Kraft zustande, was den Beginn einer längeren Phase direkter salischen Stadtherrschaft über die Stadt markiert. Die Wehrgemeinschaft der Stadtbewohner kann dabei als wesentliches gemeinschaftsförderndes Element angesehen werden. Nicht zu unterschätzen ist damit einher gehende Freisetzung weiterer Triebkräfte zur fortschreitenden Gemeinschaftsbildung und die Steigerung des Selbstwertgefühls der städtischen Führungsgruppe, getragen von Händlern und Kaufleuten. Die immer wieder bestätigen Vorrechte bleiben bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wirksam – Worms wurde zur Reichsstadt und blieb es bis um 1800.
Der 18. Januar 1074 markiert dementsprechend (weit über Worms hinaus) ein herausragendes Datum in der Entwicklung der mittelalterlichen deutschen Stadt insgesamt.
Das Ereignis wird in der stadtgeschichtlichen Forschung immer wieder herausgestellt, die Urkunde immer wieder als begehrte Leihgabe in Ausstellungen überregional gezeigt.
Das Datum ist zudem eines der wichtigsten in der gesamten Wormser Stadtgeschichte!
1074 Januar 18, Worms - Urkunde, Pergament, aufgedrücktes Herrschersiegel Stadtarchiv Worms Abt. 1 A I Nr. 3
Digitalisat Homepage
Stadtarchiv Worms: Charter DE-StaAWo|Abt1AI|I-0003 - Monasterium.net
Dr. Gerold Bönnen, Stadtarchiv Worms, Mai 2023
Unter diesem Titel ist jetzt eine neue Studie des Wormser
Stadtarchivleiters Dr. Gerold Bönnen (zunächst elektronisch auf dem den Publikationsserver
‚heidok‘ der Universitätsbibliothek Heidelberg, 88 S., 33 Abb.) erschienen. Die
Arbeit gibt einen Überblick über die zentralen Fragen und Probleme im
Zusammenhang der ältesten, für die Bürger einer Stadt ausgestellten Urkunde
eines mittelalterlichen deutschen Königs nördlich der Alpen überhaupt; zugleich
ist sie das älteste im Original erhaltene Dokument des Wormser Stadtarchivs,
das am 18. Januar 1074 von Heinrich IV. in einer existentiellen Krise seiner
Herrschaft als Lohn für bewiesene Unterstützung und Treue in Worms ausgestellt
wurde.
Die Arbeit über das für die Geschichte der Stadt des Mittelalters so überaus bedeutende Pergament mit außergewöhnlichen Zollfreiheitsrechten zugunsten der Wormser christlichen wie jüdischen Kaufleute erscheint Ende 2023 textgleich als bebilderter Aufsatz im neuen Band der vom Stadtarchiv Worms und dem Altertumsverein Worms gemeinsam herausgegebenen wissenschaftlichen Zeitschrift 'Der Wormsgau' (Band 38, 2022/23) und parallel aus Anlass des Jahrestages im Januar 2024 auch als Sonderpublikation; diese ist identisch mit dem jetzt online gestellten Text.
Gerold Bönnen, „… würdiger als alle Bürger irgendeiner Stadt“. 950 Jahre Urkunde König Heinrichs IV. für Worms 1074–2024, Worms 2023, Wernersche Verlagsgesellschaft mbH (ISBN 978-3-88462-414-2)
Link zur Veröffentlichung HeiDOK -elektronischerPublikationsserver Universitätsbibliothek Heidelberg
Worms, 14.09.2023
Dr. Gerold Bönnen, Stadtarchiv Worms